Sabine Wild
sabine-wild.com / sabinewild.com
cut and woven
Mit Begeisterung eigens erstellte Fotografien zu zerschneiden, ist ein aggressiver Akt. Mit dem Cutter fahre ich entlang der stürzenden Linien eines in die Jahre gekommenen Hochhauses in Hongkong, Kowloon, und schneide das Foto im A1-Format in vertikale Linien. Nun nehme ich mir den zweiten Druck des identischen Motivs noch einmal vor und folge mit dem Messer den horizontalen Linien entlang der Fenster- und Balkonbrüstungen. Als würde ich die Architektur des Hauses mit seinen Vorsprüngen, Klimaanlagen, Fenstergittern liebevoll nachzeichnen.
Jetzt greife ich eine alte Kulturtechnik auf und webe die horizontalen Streifen der Reihe nach in die vertikalen. Ist der horizontale Streifen eingewebt, drücke ich diesen vorsichtig an die vorherige horizontale Reihe. Dennoch entsteht ein Versatz ca. 5 mm je Streifen in die untere Richtung, so dass am Ende von der zweiten Fotografie ein breiter Streifen übrig bleibt. Je weiter ich webe, desto mehr entfernen sich die horizontalen Bildstreifen von ihrem vertikalen Double.
Als würde man auf ein Bild mit riesigen Pixeln schauen, bei dem der Ausschnitt derart vergrößert ist, dass der Betrachter nichts mehr erkennt. Oder als wären zwei identische Musikstimmen falsch synchronisiert, so dass die zweite Stimme immer weiter hinterherhinkt und ein disharmonischer, aggressiver stakkatoartiger Rhythmus entsteht.
Immer wieder bin ich überrascht, wie ein solches ineinander gewebtes Duo am Ende aussieht – ich kann die entstehende Wirkung nicht vorhersehen. Die Papierstreifen in der Hand zu halten, zentriert meinen Blick auf die Details, die ich sozusagen herausschäle. So sehe ich sich im unregelmäßigen Rhythmus wiederholende Klimaanlagen oder eine Reihe baugleicher Balkone, variierend nur durch die unterschiedliche Nutzung, mal als Wäschedepot fungierend oder ungenutzt und leer. Die analoge Technik des Fragmentierens empfinde ich dabei als viel intensiver als hätte ich diesen Schritt mittels Bildbearbeitung am Computer vollzogen.
Für mich mündet das in Streifen Schneiden und erneut Zusammensetzen des Gesamtbildes in eine genauere Wahrnehmung der Gebäudearchitektur. Interessanterweise wende ich mich dem Bild zu, während ich es zerstöre. Aus Sicht fotografischen Handwerks investiert man normalerweise für ein Foto eine Hundertstel Sekunde, die Zeit, die zur Aufnahme benötigt wird. Anders ist es beim Zerschneiden und Weben. Ich lasse mich auf das, was ich zerschneide und wieder verwebe, viel tiefer ein.
Was zunächst harmlos erscheint, entpuppt sich als subversive Geste: Ich zerstöre Architektur und verwebe sie aufs neue. Linien und Formen fallen auseinander, die Bildebene bricht auf und erlaubt – so scheint es mindestens – den Blick auf etwas “dahinter”.
Neue Nationalgalerie, Berlin 2024, 59,4 x 84 cm, Pigmentprint auf Baumwollpapier, Distanzrahmen, Museumsglas, per Hand verwebt, Unikat
Elbphilharmonie, 59,4 x 84 cm, Pigmentprint auf Baumwollpapier, Distanzrahmen, Museumsglas, per Hand verwebt, Unikat
Am Lokdepot, 60 x 120 cm, Pigmentprint auf Baumwollpapier, Distanzrahmen, Museumsglas, per Hand verwebt, Unikat
Staatsgalerie_Stuttgart_L1007238, 2009/2023, 59,4 x 84 cm, Pigmentprint auf Hahnemühle Photorag, Aluminium-Distanzrahmen, Museumsglas, per Hand gewebt, Unikat
Kunstmuseum_Stuttgart_L1007244, 2009/2023, 59,4 x 84 cm, Pigmentprint auf Hahnemühle Photorag, Aluminium-Distanzrahmen, Museumsglas, per Hand gewebt, Unikat
Las Vegas L1000580, 2022, Pigmentprint auf Baumwollpapier, Distanzrahmen,
Aluminium, Museumsglas, 84 x 59,4 cm, von Hand gewebt, Unikat
same name
Der Zufall in unserer Welt schwindet: Im digitalen Zeitalter definieren streng determinierte Algorithmen zunehmend die global geltenden Normen, bis hinein in das kleinste Detail unseres täglichen Lebens. Jenseits der binären Codes existiert zunächst ein Vakuum – und das, was wir uns hier zu erschließen wagen. Sabine Wild erforscht mit den Fotografien der Serie SAME NAME diesen künstlerischen „Zwischenraum“ und lässt sich teilweise auf die Logik von Computern ein.
Dafür eliminiert sie zunächst jede bildkuratorische Instanz, indem sie sich vom Betriebssystem per Zufall Bilder auf ihrer Festplatte zeigen lässt: Auf wahllos im Suchfeld eingetippte Zahlenkombinationen bewegt der Suchalgorithmus entsprechend benannte Fotografien aus unterschiedlichen Serien an die „Oberfläche“. Ausschlaggebend dafür ist Sabine Wilds digitale Nomenklatur, die seit vielen Jahren gemäß der technischen Grundeinstellung ihrer Kameras rein auf Ziffern basiert. Dieser Prozess wurde von der Künstlerin für SAME NAME wochenlang wiederholt. Sie reduziert ihr Handeln bis zu diesem Punkt auf reines Suchen, Begutachten, Staunen und begibt sich auf eine Zeitreise des Sich-überraschen-Lassens.
Anschließend initiiert Sabine Wild den zentralen künstlerischen Prozess: Die vom Algorithmus präsentierten, teilweise verblüffend kongruenten Bilder werden von ihr nach formalen und inhaltlichen Kriterien ausgewählt und in neuen Zweierkombinationen arrangiert. Dabei begegnen, kontrastieren, ergänzen und bereichern sich Fotografien auf spektakuläre Weise – ohne dass sie jemals vorher als zusammengehörig gedacht wurden. Wir sehen grafische Kombinationen, eindrucksvoll komponierte Farbwelten und unwirkliche Szenarien als Ergebnis einer zufallsgetriebenen Ko-Kreation von Mensch und Technik. Fotografien, die teils wundersam verschmolzene Einheiten bilden, Zusammenhänge und Welten offenbaren. Ein feinsinniges, detailverliebtes Spiel mit Kongruenzen.
SAME NAME wirft zwei zentrale Fragen auf: Wie lassen sich die Potenziale von Code und Kunst zufallsbasiert ausloten? Und: Auf welche Weise bereichern derartige Experimente ein wesentliches Element von Kunst – das unbefangene, freie und experimentelle Spiel – in einer virtueller werdenden Welt?
Enno Schramm & Vivien Woßeng, November 2019
Chance is disappearing from our world: In the digital age, strictly determined algorithms increasingly define the globally applicable standards, down to the smallest detail of our daily lives. Beyond the binary codes, there is first of all a vacuum – and that which we dare to explore here. With the photographs of the series SAME NAME, Sabine Wild explores this artistic „interstitial space“ and partly allows herself to be drawn into the logic of computers
To do this, she first eliminates any image-curatorial instance by having the operating system randomly display images on its hard drive: With random combinations of numbers entered into the search field, the search algorithm brings correspondingly titled photographs from different series to the „surface“. Sabine Wild’s digital nomenclature, which for many years has been based purely on numbers in accordance with the basic technical settings of her cameras, is the decisive factor here. The artist repeated this process for weeks to create SAME NAME. Up to this point she reduces her actions to pure searching, examining, amazement and goes on a time travel of surprise.
Sabine Wild then initiates the central artistic process: The images presented by the algorithm, some of which are astonishingly congruent, are selected by her according to formal and content-related criteria and arranged in new combinations of two. In the process, photographs meet, contrast, complement and enrich each other in a spectacular way – without ever having been thought of as belonging together before. We see graphic combinations, impressively composed worlds of color and unreal scenarios as the result of a randomly driven co-creation of man and technology. Photographs, some of which miraculously merge to form units, reveal connections and worlds. A subtle, detailed interaction of congruities.
SAME NAME raises two central questions: How can the potential of code and art be explored on a random basis? And: In what ways do such experiments enrich an essential element of art – the unbiased, free and experimental interaction – in a world that is becoming more virtual?
Enno Schramm & Vivien Woßeng, November 2019
L1001950 Singapur, 2016 / L1001950 Berlin, 2017
84 x 59,4 cm, Pigmentdruck auf Hahnemühle-Photorag, Edition 5 + 1 Artist Print, VG Bildkunst 2025
L1005321 Chengdu, 2014 / L1005321 Berlin, 2016
42 x 29,7 cm, Pigmentdruck auf Hahnemühle-Photorag, Edition 5 + 1 Artist Print, @ VG Bildkunst 2025
_MG_1824 Hongkong, 2011 / _MG_1824 New York, 2013
59,4 x 42 cm, Pigmentdruck auf Hahnemühle-Photorag, Edition 5 + 1 Artist Print, @ VG Bildkunst 2025
L1003989 Chonqging, 2019 / L1003989 Madrid, 2016
84 x 59,4 cm, Pigmentdruck auf Hahnemühle-Photorag, Edition 5 + 1 Artist Print, @ VG Bildkunst 2021
L1002876 Chengdu, 2019 / L1002876 Havanna, 2014
59,4 x 42 cm, Pigmentdruck auf Hahnemühle-Photorag, Edition 5 + 1 Artist Print, @ VG Bildkunst 2021
Vietnam
Immer wieder fotografiere ich eigene Aufnahmen, die während einer Reise durch Vietnam entstanden sind, mehrfach mit dem Handy vom Monitor ab. Dabei möchte ich mir das Original immer wieder aufs Neue aneignen, mich seiner bemächtigen, um jedoch festzustellen, dass es sich jeweils einer genauen Wiederholung widersetzt, es verändert sich während des ständigen Reproduktionsprozesses. Unschärfen treten ein, die Farben verändern sich, Moirée-Effekte entstehen. Diese fortlaufende Entfernung vom Original lote ich künstlerisch aus. Die Wiederholungen verdeutlichen dabei die Differenzen in den einzelnen Versionen. Schlussendlich entstehen Bilder von farblicher Entrücktheit und poetischer Weite.
Vietnam
Again and again Sabine Wild photographs her own images taken during a trip through Vietnam using a cell phone to capture the image from her monitor. This allows her to repeatedly recapture the original, to usurp it, and to realize that it refuses to be precisely the same – it becomes altered throughout the continuous reproductive process. Blurs arise, the colors change, moiré effects occur. Wild artistically expounds upon this progressive detachment from the original. The repetitions emphasize the differences in the specific versions. In the end images with colorful abstraction and poetic expanse are born.
„Vietnam_1365_I“, 2012, Inkjetprint auf Hahnemühle Photo Rag / Aludibond, 60 x 60 cm, Ed. 5 + 1 AP
„Vietnam_1355“, 2012, Inkjetprint auf Hahnemühle Photo Rag / Aludibond, 60 x 60 cm, Ed. 5 + 1 AP
„Vietnam_1246“, 2012, Inkjetprint auf Hahnemühle Photo Rag / Aludibond, 60 x 60 cm, Ed. 5 + 1 AP
„Vietnam_1011“, 2012, Inkjetprint auf Hahnemühle Photo Rag / Aludibond, 60 x 60 cm, Ed. 5 + 1 AP
„Vietnam_1407“, 2012, Inkjetprint auf Hahnemühle Photo Rag / Aludibond, 60 x 60 cm, Ed. 5 + 1 AP